Mein nächstes Lernvideo – Trickfilm oder Realfilm?

01. Oktober 2018 - Alle Kategorien, Content, Lernvideos

Autor: Chris Hollweg

Bevorzugst Du Sportwagen oder fährst Du lieber mit einem Traktor? Ich verstehe die vielen Menschen, die sich ohne zu überlegen für einen Sportwagen entscheiden. Nur ist der Sportwagen nicht immer die beste Wahl, querfeldein zum Beispiel. Du fragst Dich was diese Einleitung mit Lernvideos zu tun hat? Let´s see.

Comics sind nicht per se lustig

Sehr oft erlebe ich in der Lernvideoproduktion frühe Entscheidungen zugunsten von comicartigen Trickfilmen, häufig noch bevor Klarheit über die angestrebten Lernziele herrscht. Die meistgenannte Begründung: „Lernen soll Spaß machen und ein Bisschen Humor schadet sicher auch nicht.“

Ich bin seit vielen Jahren ein großer Comic-Fan und glaube sagen zu können, dass die allermeisten Comics dieser Welt nicht lustig sind, oft leider auch nicht, wenn sie das beabsichtigen. Selbst die Anwendung von Elementen des Kindchenschemas (im Vergleich zum Körper großer Kopf mit starker Stirnwölbung, große, tief angeordnete Augen, kleiner Nasen- und Kinnbereich, kurze Gliedmaße, unbeholfene Bewegungen usw.) ist kein Garant für humorvolle Comics und Trickfilme, sondern bestenfalls hilfreich dafür.

Manchmal schadet Humor eben doch

Ja, das ist mein Ernst, manchmal ist Humor schädlich. Sehen wir uns folgendes Beispiel an: In einem mittelgroßen Unternehmen soll über ein Lernprogramm erreicht werden, dass die Mitarbeiter zu den möglichen Folgen eines sorglosen Umgangs mit Daten sensibilisiert werden und sich datenschutzkonform verhalten. Mit einem gut gemachten Zeichentrickfilm, in dem sich die sympathische Susi Sorglos unaufmerksam verhält und ihre ebenso sympathische Kollegin Anna Achtsam gerade noch schlimme Folgen verhindert, kann man bestimmt das eine oder andere Schmunzeln bei den Nutzern erreichen. Lernen soll ja Spaß machen, stimmts? So versuchen auch viele dieses Lernthema umzusetzen. Meine Meinung dazu: Thema verfehlt, es sei denn es lautete „So nett können Datenschutzverfehlungen sein“. Es wäre viel besser, Betroffenheit darüber zu erzeugen, welche drastischen Folgen eine vermeintlich harmlose Unterlassung oder Handlung auslösen kann und wie unaufwändig das datenschutzkonforme Verhalten eigentlich ist.

Betroffenheit erzeugen

Wie wäre es zum Beispiel mit folgendem Lösungsansatz? Wir drehen einen Realfilm mit echten Menschen, die viele Nutzer des Lernprogramms anhand des Äußeren und des Habitus als gut getroffene Mitarbeiter des eigenen Unternehmens einschätzen würden.

Teil 1: Eine kleine Unachtsamkeit eines Kollegen, zum Beispiel das Nicht-Sperren des Computerbildschirms in einer hektischen Situation, löst eine mittlere Katastrophe für das Unternehmen aus. Wir drehen die Folgen der Unachtsamkeit in düsterer Stimmung, stellenweise mit dramatischer Musik unterlegt und schnellen Schnittfolgen, möglichst ohne überzogen zu wirken.

Teil 2: Zurückspulen im Zeitraffer bis zur kritischen Situation; der Mitarbeiter hält kurz inne und verhält sich korrekt. Die negativen Folgen bleiben aus.

Teil 3, das Hinweisen darauf, dass es so doch viel besser ist usw. lassen wir weg. Das ist Waschmittelwerbung-der-80er-Style.

Der Sinn von Abstraktion in Lernvideos

Bei Real-Spielszenen identifiziere ich mich mit den Handelnden. Das was dort geschieht, „passiert mir“ in diesem Moment. Wenn ich eine (bewegte) Zeichnung von einer Situation anfertige, nehme ich ihr etwas von ihrer Realität, schaffe Distanz, verallgemeinere. Je weniger realistisch und detailreich die Zeichnung ist, umso stärker fällt der Effekt aus. Das hat selbstverständlich seinen Platz in Lernvideos. Das Verstehen menschlichen Verhaltens ist eine Mischung aus Erfahrung und der Anwendung von Erklärungsmodellen, also Vereinfachungen und Verallgemeinerungen. Wir wollen schließlich keine Hollywood-Filme drehen und es dem Zufall überlassen, ob man daraus etwas lernt. Aber es sollte immer eine bewusste Entscheidung sein: Brauche ich Realitätsnähe oder Abstraktion? Möchte ich reale Situationen analysieren? Will ich emotionale Betroffenheit erreichen? Will ich üben fundierte Entscheidungen zu treffen? Oder möchte ich Regeln, Prinzipien und Abläufe herausstellen, die man in vielen Situationen wiedererkennen kann?

Storytelling und Trickfilm in Lernvideos kombinieren, aber nicht vermischen

Man glaubt fast nicht, wie häufig aufwändige Realfilmszenen gedreht werden, in denen die unachtsame Mitarbeiterin Susi Sorglos (oder ähnlich) heißt und bei der Pfefferminzia Versicherung arbeitet. Das schafft Distanz zum falschen Zeitpunkt. Solche Namen gehören in die Comic-Welt zu Micky Maus und Peter Parker. Besser ist es, eine realistische Szene mit realistischen Personen (und realistischen Namen) zu drehen und im Anschluss zu abstrahieren, um Prinzipielles herauszuarbeiten. Das kann in einer Folgeszene entweder ganz ohne Personen, zum Beispiel anhand von animierten Schaubildern passieren oder aber jetzt mit abstrahierten Figuren („Person A“, „der Kunde“ usw.). Ungünstig wäre es, die Realpersonen aus der vorherigen Handlung auftreten zu lassen. Das zerstört sozusagen rückwirkend die Identifikation, weil ich sie „außerhalb ihrer Rolle“ erlebe. Hinweise auf die Realszene, auch mit unveränderten Ausschnitten, sind aber oft hilfreich.

Darauf solltest Du achten

Es gibt Faktoren, mit denen Du Realismus oder Abstraktion erreichen bzw. verstärken kannst. Ein abstrahierender Faktor dämpft den Realismus, Realitätsnähe schwächt unter Umständen das Verdeutlichen von Allgemeingültigem.

 

Realitätsnähe fördernde Faktoren in Lernvideos

  • Echte oder realitätsnah gezeichnete Personen mit korrekten Körperproportionen
  • Personen, die sich realistisch bewegen oder Überblendungen bei Standbildern
  • Statt Sprechblasen Audios oder geschriebenen Text im Zitatstil verwenden
  • Möglichst wenig Moderation aus dem Off; besser selbsterklärende Szenen kreieren
  • Real  klingende Namen von Personen, Marken, Firmen und Orten
  • Gelegenheit zur Identifikation geben – Personen mit einer kleinen Lebenssituation, einer Geschichte und Charaktermerkmalen schaffen
  • Aufteilung von Storytelling und Interpretation in unterschiedliche Szenen
  • Beschriftungen und schriftliche Erläuterungen in Realspielszenen vermeiden; wenn, dann als so genannte Bauchbinde am unteren Bildschirmrand, wie in Nachrichtensendungen
  • Pfeile, Markierungen usw. nicht über Realfilmszenen legen, um auf etwas hinzuweisen
  • Keine unrealistischen Soundeffekte verwenden

 

Abstrahierende Faktoren in Lernvideos

  • 2D statt 3D
  • Flächige Farben statt Farbverläufe
  • Wenig Details – je weniger, desto abstrakter
  • Vereinfachen oder Verzerren von Formen – bei Menschen zum Beispiel mit dem Kindchenschema oder durch Karikaturen
  • Die Randlinie – Körper in der echten Welt haben keine schwarze Begrenzungslinie
  • Namen mit Bedeutungen und Alliterationen, wie zum Beispiel Gerhard Gierig oder Ferdinand Vertreter
  • Vereinfachte oder fehlende Bewegungen bei Mensch und Tier
  • Beschriftungen
  • Trickfilm-Soundeffekte
  • Onomatopöie – die schriftliche Darstellung eines Geräusches, zum Beispiel „PENG!“
  • Sprechblasen
  • Schaubilder, Diagramme und Prozessdarstellungen
  • Sprecher aus dem Off

 

Vielleicht helfen Dir die gelisteten Faktoren und Verstärker weiter. Don´t mix them up ;-)! Ich freue mich auf Deine Meinung und Deine Erfahrungen.

Die Kommentarfunktion ist für diesen Artikel deaktiviert.

0 Kommentare